Das Medium Reiseblog. Wie die Suche nach der authentischen Fremderfahrung in der Konstruktion von Fremdbildern endet

#wanderlust Es scheint, als herrsche eine allgemeine Wehmut unter Reisenden. Die Wehmut, dass nahezu kein Ort mehr unerkundet ist und Eindrücke in irgendeiner Form bereits niedergeschrieben wurden. Die Suche nach Authentizität in einer Welt, in der nichts mehr authentisch zu sein scheint, ist hier von besonderer Bedeutung. Insbesondere in der alternativen Reiseszene stößt man auf die Sehnsucht nach dem Authentischen, der Unmittelbarkeit, dem Ursprünglichen. Dieser Wunsch nach dem authentischen Fremderleben ist ein entscheidender Aspekt, da er den ‘Spirit’ des exotischen Ortes erst ausmacht. Wie Philipp Rodrian betont, nehmen hierbei insbesondere Mythen und Fantasien einen hohen Stellenwert ein, da sie als “authentisch beziehungsweise typisch angesehen werden und einen hohen Wiedererkennungswert aufzeigen” (2009: 47). Die tatsächliche Komplexität wird hierbei oftmals stark reduziert, weshalb die Destination und die beheimatete Bevölkerung in stark reduzierter Form in ein einfaches Schema gepresst und schlussendlich zum Image eines Raumes erhoben werden (ebd.).

#tourismus2.0 Die Trennlinie zwischen virtueller und realer Welt verschwimmt zusehends und wirft die Frage auf, wie sich das Virtuelle sowohl auf die Gesellschaft als auch auf das Individuum auswirkt und im Gegenzug, welchen Einfluss das Individuum selbst im digitalen Netz ausübt. Die durch die Digitalisierung und Social Media hervorgebrachten Veränderungsprozesse rufen auch einen grundlegenden Wandel in der Tourismusbranche hervor und etablieren eine neue Möglichkeit der Reisekommunikation.

Bei vergangenen Reiseplanungen haben wir uns dabei beobachtet, auf den verschiedensten Reisblogs zu stöbern, uns inspirieren zu lassen und vorzubereiten. Eine Beobachtung, die uns auch im Freundes- und Bekanntenkreis aufgefallen ist – der Reiseblog ist im Mainstream angelangt. Ausgang für unseren Forschungsschwerpunkt ist also die Reflektion des eigenen (Reise-) Nutzungsverhaltens im digitalen Netz. Welche Auswirkungen hat diese Vorabrecherche auf mein Reisen, auf mein Reiseerleben? Wie nehme ich das Fremde, den fremden Ort wahr, wenn ich bereits alles vor meinem inneren Auge habe? Reise ich beeinflusst durch Reiseblog, Instagram und Co. mit einem visuellen Erlebnisfilter? Dies sind Fragen, mit denen wir uns auseinandergesetzt haben und uns zu folgendem zentralen Gedanken geführt hat: Ob und auf welche Weise werden Fremdbilder im digitalen Diskurs konstruiert und wie wirkt sich dies auf das Fremderleben aus. Damit einhergehend stellen wir uns die Frage, inwieweit Machtverhältnisse im digitalen Diskurs bestehen und welche ‘Macht’ von ihm allgemein ausgeht.

#reisedepeschen Im Vergleich zum leicht verstaubten Marco Polo-Reiseführer ist der Reiseblog ein beliebtes Alternativmedium geworden, eine neue Quelle der Reiseinspiration und -vorbereitung. Planen wir unseren nächsten Trip, so stöbern wir gerne in Reisegeschichten und -erlebnissen von anderen Wanderlustigen. Reisedepeschen, ein mit dem Grimme Online Award ausgezeichnetes Reiseblog-Portal, möchte unterhaltsame, glaubwürdige und inspirierende Momentaufnahmen bieten. Laut eigener Aussage veröffentlichen sie die besten deutschsprachigen Reisegeschichten, Reisefotos und Reisevideos. Die subjektive Erzählweise der Autoren, die Faktisches und Fiktives verbindet, erzeugt das Gefühl eines unmittelbaren Nacherlebens, ein gewisses ‘Dabei-Sein’.

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Screenshot Reisedepeschen: http://www.reisedepeschen.de/, Recherche am 29.03.2017.

#orientpur Wie stellt man ihn sich vor, diesen ‘puren Orient’? Welche Bilder hat man vor Augen? Vielleicht denkt man als erstes an farbenprächtige Gewänder und Turbane, die ein von der Sonne gegerbtes Gesicht umrahmen, an leuchtend-funkelnde Laternen und verwunschene Paläste mit goldenen Kuppeln? Oder an ein buntes Treiben auf einem exotisch-duftenden Gewürzmarkt mit fremdklingendem Stimmengewirr?

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Screenshot Reisedepeschen: http://www.reisedepeschen.de/esfahan-du-schone/, letzter Zugriff: 29.03.2017.

#touristgaze Laut dem britischen Soziologen John Urry nehmen wir auf Reisen – also abseits unserer gewohnten Umgebung – die Gegebenheiten mit größerer Sensibilität, Neugierde und gesteigertem Interesse wahr und suchen gezielt nach Zeichen und Symbolen, die das ‘Fremde’, das ‘Exotische’ repräsentieren. Wir wählen also einen bestimmten Bildausschnitt – beispielsweise die geschäftigen Händler auf dem bunten Bazar – teilen diesen prompt mit Freunden und Familie und posten es auf Instagram. Wir geben diese ‘Bilder’ nicht nur weiter, sondern es entsteht ein Prozess, in dem Fremdbilder von uns reproduziert und somit in das gesellschaftliche Bewusstsein implementiert werden. Wir füttern also genau diese Vorstellungen, den ‘Gaze’, der bereits in unseren Köpfen verankert ist. Die Konsequenz kann ein asymmetrisches Machtverhältnis sein. Ein Machtverhältnis, in dem unsere gebündelte, eurozentristische Perspektive einseitig Macht auf den Reiseort als Objekt und folglich auch auf die dort beheimateten Menschen ausübt (Rodrian 2009: 46).

#orientalism Ein Phänomen, das auch der renommierte Literaturtheoretiker Edward Said in seinem vielzitierte Werk Orientalism (1978) behandelt. Laut Said stellt der Orient lediglich eine westliche Konstruktion des ‘Anderen’ dar. Das bedeutet, dass der Orient sich nicht selbst definiert, sondern vom Westen – dem Okzident – fortlaufend in Abgrenzung konstruiert wird. Während der Westen als Träger von aufgeklärter Zivilisation präsentiert wird, stellt der Orient einen mysteriösen Ort der Exotik und der Bedrohung dar: “[F]or the Western gaze, the Orient offers exotic, sinful, sexual delights all wrapped in an ancient, mystical and mysterious tradition“ (Sardar 1999: 6). Dieser wird im Gegensatz zum Westen als zurückgeblieben, despotisch und sinnlich wahrgenommen: “The Oriental is irrational, depraved (fallen), childlike, ‘different’; thus the European is rational, virtuous, mature, ‘normal’” (Said 1978: 40). Er erkennt hierbei ein klar hierarchisches Verhältnis zwischen Orient und Okzident, das in einer stetigen Verbindung mit einem Macht- und Herrschaftsaspekt zu sehen ist: „[…] Orientalism as a Western style for dominating, reconstructing and having authority over the Orient” (Said 1978: 69).

#diskursanalyse Den methodischen Kern bildet die diskursive Analyse à la Siegfried Jäger von je zwei ausgewählten Blogbeiträgen aus dem Iran und der Türkei. Sprachlich-rhetorische Mittel, Anspielungen und Redewendungen sowie (Kollektiv-) Symbolik und Metaphorik, sprachliche wie graphische Kontexte, Wortschatz und Stil haben wir hier genauer betrachtet. Wir ergänzten die Feinanalyse durch die strukturanalytische Untersuchung des Blogportals im Sinne der dichten Beschreibung nach Clifford Geertz (1987) und haben unter anderem das Layout, die Autorenschaft und die Zielgruppe unter die Lupe genommen. Im Vorfeld hatten wir die Gelegenheit ein Experteninterview mit dem Bloggründer zu führen und konnten so Hintergrundinfos in unsere Analyse einbinden.

Ein Reiseblog ohne ein ansprechendes Foto? Richtig, gibt es nicht! Mit Hilfe einer multimodalen Diskursanalyse gelang es uns daher den gesamten Inhalt des Diskursfragmentes erfassen zu können, denn der digitale Reisebericht wirkt gerade erst durch Bild und Ton, durch Fotoausschnitte und Videoaufnahmen. Diese sind konstitutive Bestandteile des Reiseberichts und erst dadurch kann die ‘Message’ des ‘unmittelbaren’ Reiseerlebens und der ‘authentischen’ Fremderfahrung in Gänze transportiert werden.

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Screenshot Reisedepeschen: http://www.reisedepeschen.de/mit-yusuf-und-emina-auf-dem-basar-von-urfa/, Recherche am 29.03.2017.

#outcome Durch das Hinzuziehen des Orientalism-Ansatzes und des Konzepts des Tourist Gaze können wir an ausgewählten Textpassagen bzw. Bildausschnitten unserer gewählten Blogbeiträge die Konstruktion von Fremdbildern im Reiseblog aufzeigen. Dies spiegelt sich in Inhalt, Ausdrucksweise und Wortwahl der Blogger sowie in der Verwendung von stilistischen Mitteln, Redewendungen und Hervorhebungen wider. Darüber hinaus zeigen die ausgewählten Szenarien, wie beispielsweise das lebhafte Basartreiben, eine Bedienung des westlichen Orientbilds. Unsere Analyse der Blogeinträge zeigt, dass eine deutliche Gegenüberstellung von Orient versus Okzident stattfindet, um in der Abgrenzung zum Fremden das westliche Selbstbild zu definieren; beispielsweise beschreibt ein Blogger den Orient als “andere Welt”. Durch die Konstruktion des Anderen wird der Orient instrumentalisiert “to define Europe (or the West) as its contrasting image, idea, personality, experience” (Said 1978: 1f.). Insbesondere die Verweiblichung des Orients ist ein wesentlicher Aspekt des Orientalism. Dies zeigt sich beispielhaft in der sichtlichen Feminisierung einer iranischen Stadt: “Esfahan, du Schöne!”. Die Gegenüberstellung eines sinnlich-erotischen, romantisierten und feminisierten Orients versus eines männlichen und sittlichen bzw. zivilisierten Okzidents ist klar zu erkennen. Darüber hinaus bewertet eine Bloggerin explizit das von ihr Erlebte und spaltet in ihren Erzählungen Handlungsmuster in ‘normal’ und ‘unnormal’; sie grenzt sich vom Orient ab, ihr okzidentales Selbstverständnis wird hier ersichtlich.

Es lässt sich eine allgemeine Motivation bei den Bloggern bzw. den (alternativ) Reisenden erkennen, welche grundsätzlich “motivated by its desire for authentic experience” (MacCannell 1976: 101) sind. Jedoch sind sie gleichsam von den durch Medien generierten idealbildlichen Repräsentation des ‘exotisieren Fremden’ beeinflusst. Sie befinden sich selbst in einem gewissen Seh- und Wahrnehmungsmodus, dem Modus des Tourist Gaze. In ihren Berichten bedienen die Blogger also oftmals die westliche Vorstellung des Orients. Sie übertragen die von ihren Followern erwarteten Bilder und festigen diese so durch fortlaufendes bloggen, posten und sharen. Wir sehen daher eine gewisse Wirkungsmacht seitens der Reiseblogger: Aufgrund der Wahl von Rahmen und Inhalt des Blogbeitrags wird das bestehende hierarchische Machtgefälle zwischen Orient und Okzident intensiviert. Bei dem Versuch den Tourist Gaze abzulegen und mit Stereotypen zu brechen, zeigt sich die Dimension der “sozial konstruierten Repräsentanz” (Rodrian 2009: 47) der verankerten Fremdbildern. Die Blogger nennen Stereotype mit der Intention, sie zu minimieren und ihrer möglichen negativen Konnotation zu entziehen. Es lässt sich erkennen, dass der Gebrauch von Stereotypen einerseits zur Komplexitätsreduktion – den “unfassbaren” Orient “fassbar” machen – dienen soll, auf der anderen Seite überindividuelle Gesellschaftsbilder festigt und eine Wertung in ‘normal’ und ‘unnormal’ zur Folge hat. Stereotype werden durch diese (unbewusste wie bewusste) Differenzierung oftmals betont. Es findet eine Abgrenzung (des Lesers) gegen das Exotische, das Andere, das Fremde statt. Die Konstruktion des Fremden im Kopfe wird entsprechend verstärkt.

Unbenannt
Screenshot Reisedepeschen: http://www.reisedepeschen.de/esfahan-du-schone/, Recherche am 29.03.2017.

#lastbutnotleast Abschließend kann festgehalten werden, dass die Vorstellungen und Erlebnisse des Touristen bzw. des Bloggers zwar individueller und tiefgreifender Natur sein können und sich daher durchaus von den aggregierten und fest verankerten Stereotypen der jeweiligen Region unterscheiden können, jedoch bleibt, wie Rodrian passend formuliert, dass “die imaginären Welten der konstruktivistischen Authentizität in den Köpfen der Touristen verankert sind und letztlich Menschen dazu bringen, Touristen zu werden” (2009: 61).

Maris Dohlen, Kerstin Schmidt & Jane Weßeler


 

Literatur

MacCannell, Dean (1976). The Tourist. A New Theory of the Leisure Class. New York: Schocken Books.

Rodrian, Philipp T. (2009). Das Erbe der deutschen Kolonialzeit in Namibia im Fokus des “Tourist Gaze” deutscher Touristen. In: Würzburger Geographische Arbeiten (102), 7-204.

Sadar, Ziauddin (1999). Orientalism. Buckingham, Philadelphia: Open University Press.

Said, Edward (1978). Orientalism. New York: Random House.

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